Strukturen (Teil 2)

Neben der Parallelstruktur gibt es noch eine zweite Struktur, die in der Bibel sehr häufig vorkommt: die sogenannte chiastische Struktur. Hier wird eine bestimmte Abfolge (z.B. A – B – C) nicht in der gleichen, sondern in umgekehrter Reihenfolge wiederholt (C‘ – B‘ – A‘). Manchmal enthält eine chiastische Struktur zwei parallele Elemente im Zentrum (in diesem Fall C und C‘). Oft gibt es aber auch nur ein zentrales Element, das kein Gegenstück hat:

A – B – C – X – C‘ – B‘ – A‘

Während die Parallelstruktur eher die Sequenz der Elemente betont und die Beziehung zwischen den parallelen Komponenten hervorhebt, liegt das Hauptaugenmerk beim Chiasmus auf dem zentralen Element (bzw. den beiden zentralen Elementen). Was der Autor im Zentrum der Struktur platziert, hat sehr wahrscheinlich eine wichtige Bedeutung für den gesamten Textabschnitt. Bei biblischen Geschichten stellt das Zentrum der chiastischen Struktur oft auch einen Wendepunkt in der Erzählung dar.

Die Struktur von 1. Mose 11,1-9

Ein gutes Beispiel für eine solche chiastische Struktur finden wir in der bekannten Geschichte vom Turmbau zu Babel in 1. Mose 11,1-9. Wenn wir auf die Wiederholungen in dieser Geschichte achten, können wir die Struktur bereits in ihren Grundzügen erkennen:

Und die ganze Erde hatte ein und dieselbe Sprache und ein und dieselben Wörter. Und es geschah, als sie von Osten aufbrachen, da fanden sie eine Ebene im Land Schinar und ließen sich dort nieder. Und sie sagten einer zum anderen: Wohlan, lasst uns Ziegel streichen und hart brennen! Und der Ziegel diente ihnen als Stein, und der Asphalt diente ihnen als Mörtel. Und sie sprachen: Wohlan, wir wollen uns eine Stadt und einen Turm bauen, und seine Spitze bis an den Himmel! So wollen wir uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Fläche der Erde zerstreuen! Und der HERR fuhr herab, um die Stadt und den Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle, und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts unmöglich sein, was sie zu tun ersinnen. Wohlan, lasst uns herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass sie einer des anderen Sprache nicht mehr verstehen! Und der HERR zerstreute sie von dort über die ganze Erde; und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. Darum gab man ihr den Namen Babel; denn dort verwirrte der HERR die Sprache der ganzen Erde, und von dort zerstreute sie der HERR über die ganze Erde.

Wenn wir bei den Wiederholungen nach Mustern suchen, könnte uns z.B. auffallen, dass der Begriff „HERR“ zwar fünf Mal in der Geschichte vorkommt, aber alle fünf Vorkommnisse in der zweiten Hälfte des Textes zu finden sind. Die Geschichte scheint also aus zwei großen Teilen zu bestehen. Im ersten Teil ist der HERR komplett abwesend, im zweiten Teil dafür umso aktiver.  Im ersten Teil reden die Menschen und sagen „Wohlan, lasst uns…“, im zweiten redet der HERR und sagt ebenfalls „Wohlan, lasst uns…“. Umrahmt werden diese Reden von den Begriffen „dort“ und „Sprache“ sowie der Phrase „die ganze Erde“, die gemeinsam sowohl am Anfang als auch am Ende der Geschichte vorkommen.

Dass dieser Text chiastisch aufgebaut ist, wird auch durch eine Analyse der Handlung deutlich. Die Geschichte besteht aus folgenden Szenen:

  • Einleitende Aussage
  • Reise zu einem Ort und Besiedelung
  • Rede über den Bau der Stadt
  • Gott kommt herab und sieht
  • Rede über die Verwirrung der Sprache
  • Zerstreuung vom Ort des Geschehens und Beendung der Bauaktivität
  • Abschließende Aussage

Wenn man die Parallelen zwischen Szenen und die bereits angesprochenen Wiederholungen berücksichtig, ergibt sich folgende Struktur:

A Einleitende Aussage: Die ganze Erde hatte dieselbe Sprache (v 1)

     B Reise und Besiedlung – Ortsname: Schinar (v 2)

          C Rede der Menschen: Wohlan, lasst uns (vv 3-4)

              X Gott kommt herab, um zu sehen (v 5)

          C’ Göttliche Rede: Wohlan, lasst uns (vv 6-7)

     B’ Zerstreuung – Ortsname: Babel (vv 8-9a)

A’ Abschließende Aussage: Gott verwirrte die Sprache der ganzen Erde (v 9b)

Die entscheidende Frage ist natürlich, warum der Text so aufgebaut ist. Zum einen werden durch diese Anordnung die vielen Umkehrungen in der Geschichte betont:

  • Am Anfang sprechen alle die gleiche Sprache, am Ende ist die Sprache verwirrt.
  • Am Anfang ziehen die Menschen zu einem Ort und siedeln sich dort an, am Ende werden sie von genau diesem Ort zerstreut.
  • Am Anfang wollen sie eine Stadt bauen, am Ende hören sie auf, die Stadt zu bauen.
  • Am Anfang sprechen die Menschen und Gott schweigt, am Ende schweigen die Menschen und nur Gott spricht.

All diese Umkehrungen beginnen mit dem Eingreifen Gottes, das im Mittelpunkt der Geschichte steht: Gott kommt herab und sieht. Das ist der Wendepunkt der gesamten Geschichte. Davor ergreifen die Menschen die Initiative – sie sind es, die reden und alles planen. Nach dem Wendepunkt ergreift Gott die Initiative und deswegen kommt das Handeln der Menschen zum Stillstand.

Die Struktur betont auch den Gegensatz zwischen den Menschen, die Gott sein wollen, und dem wahren Gott, indem die Aussagen der beiden Hauptdarsteller (Menschen – Gott) einander parallel gegenübergestellt werden (C und C’). Während die Menschen mit ihrem Vorhaben scheitern, setzt Gott das, was er sagt, in die Tat um. Der Kontrast zwischen dem Handeln der Menschen und dem Handeln Gottes wird durch die zentrale Aussage noch zusätzlich hervorgehoben: Während die Menschen einen Turm bauen wollen, der bis an den Himmel reicht, muss Gott herunterkommen, um überhaupt sehen zu können, was sie da machen! Was für eine Ironie!

Die Struktur des Abrahamzyklus

Es gibt auch längere Texte und sogar einige biblische Bücher, die chiastisch angeordnet sind. Ein gutes Beispiel sind die Geschichten von Abram/Abraham in 1. Mo 11,27 – 22,24. Wer diese Geschichten aufmerksam liest, merkt relativ bald, dass etliche Elemente zweimal vorkommen: Es gibt zwei Genealogien (1. Mo 11,27-32 und 22,20-24), Abraham lügt zweimal bzgl. Sarah (1. Mo 12,10-20 und 20,1-18), Sodom spielt an zwei Stellen eine Rolle (1. Mo 13 – 14 und 18 – 19) und Gott schließt zwei Bünde mit Abraham (1. Mo 15 und 17). Aus diesen Parallelen ergibt sich folgende Struktur:

A Genealogie Terachs (11,27-32)

B Anfängliche Verheißung, Abrams Reise in das Land – Glaubensprüfung (12,1-9)

C Abram lügt bzgl. Sarah; Gott schützt sie im Palast eines fremden Königs (12,10-20)

D Lot zieht nach Sodom (13,1-18)

E Abram rettet Sodom und Lot (14,1-24)

F Bund mit Abram; Geburt Ismaels angekündigt (15,1-16,16)

F’ Bund mit Abraham; Geburt Isaaks angekündigt (17,1-18,15)

E’ Abraham tritt für Sodom und Lot ein (18,16-33)

D’ Lot flieht aus Sodom (19,1-38)

C’Abraham lügt bzgl. Sarah; Gott schützt sie im Palast eines fremden Königs  (20,1-18)

B’ Verheißung erfüllt, Abrahams Reise nach Morija – Glaubensprüfung (21,1-22,19)

A’ Genealogie Nahors (22,20-24)

Auch hier stellt sich die Frage, warum der Autor diese Geschichten so angeordnet hat. Zum einen wird die zentrale Bedeutung des Bundes zwischen Gott und Abraham unterstrichen. Wegen dieses Bundes und aufgrund der Treue Gottes wird die zu Beginn des Zyklus gegebene Verheißung am Ende tatsächlich auch erfüllt. Gleichzeitig verdeutlicht der zentrale Teil der Struktur, wie schwer es Abraham fällt, Gott völlig zu vertrauen. Trotz Gottes Verheißung versucht Abraham, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen. Es ist jedoch erstaunlich, wie Gott mit diesem Scheitern umgeht. Nicht nur, dass er Hagar ein verblüffendes Versprechen macht; nein, er ist auch bereit, den Bund mit Abraham wiederherzustellen. So werden durch die Struktur des Zyklus die Einstellungen der beiden Bundespartner gegenübergestellt: Während die Menschen untreu sind und den Bund brechen, bleibt Gott treu und ist bereit, den Bund zu erneuern.

Trotz allem stellt Gott klar, dass seine Pläne Wirklichkeit werden: nicht der Sohn der menschlichen Leistung (Ismael) wird der Erbe sein, sondern der Sohn der göttlichen Verheißung (Isaak). Warum liegt Gott so viel daran? Weil das ganze Thema der Nachkommenschaft (und des Bundes!) mit Erlösung zusammenhängt! Es ist schließlich der Same der Frau, der der Schlange den Kopf zertreten wird (1. Mo 3,15). In 1. Mo 16 versucht Abraham, den Samen/Nachkommen selbst hervorzubringen (Erlösung durch Werke), doch Gott stellt klar, dass der Same/Nachkomme auf übernatürliche Weise hervorgebracht werden wird (Erlösung durch Gnade). Das Zentrum der Struktur weist also letztendlich auf zwei verschiedene Erlösungswege hin: menschengemachte Erlösung oder Erlösung, die von Gott gegeben wird. Und obwohl der Mensch versucht, sich selbst zu retten, hat doch Gott das letzte Wort: Er wird die Menschen durch den Samen/Nachkommen erlösen, den er selbst bereitstellt. Weil er weiß, dass nur dieser Erlösungsweg den Menschen wirklich frei macht. Was für ein Gott!

Fortsetzung folgt!