Absichtlichkeit

Sobald wir anfangen, auf die Wiederholungen im Schöpfungsbericht zu achten, wird es richtig interessant. Wenn wir z.B. zählen, wie oft bestimmte Begriffe und Formulierungen in dieser Geschichte wiederholt werden, fällt uns ein erstaunliches Muster auf:

  • Das Wort “Vogel” wird 7 Mal wiederholt
  • Das Wort “Tag” wird 14 Mal wiederholt
  • Das Wort “Erde” wird 21 Mal wiederholt
  • Das Wort “Gott” wird 35 Mal wiederholt
  • Die Phrase „Und Gott sprach“ kommt 7 Mal in Verbindung mit einem Schöpfungsbefehl vor
  • Die Phrase „Und Gott sah, dass es gut war“ kommt 7 Mal vor (beim 7. Mal: sehr gut)

Das Ganze wird noch faszinierender, wenn wir die Wörter und Buchstaben im hebräischen Text zählen. Wir haben:

  • 7 (hebräische) Wörter in 1,1
  • 28 (hebräische) Wörter in 1,1
  • 14 (hebräische) Wörter in 1,2
  • 35 (hebräische) Wörter in 2,1-3
  • 3 Aussagen von je 7 (hebräischen) Wörtern über den 7. Tag (2,2-3a)

Somit ist der gesamte Bericht nicht nur von Begriffen und Formulierungen durchdrungen, die sieben Mal oder ein Vielfaches davon vorkommen, sondern auch von Abschnitten (1,1-2 und 2,1-3) umrahmt, die aus 21 bzw. 35 Wörtern (also ein Vielfaches von sieben) bestehen. Dass die Zahl sieben in einem Bericht über die Erschaffung der Welt in sieben Tagen so stark betont wird, scheint kein Zufall zu sein, vor allem, da solche offensichtlich genau geplanten Wiederholungen auch in anderen Teilen der Bibel vorkommen.

  • In 1. Mose 12,1-9, zum Beispiel, kommen die Wörter „Abram“ und „Land“ sieben Mal vor. Außerdem werden genau sieben Ortsnamen in dieser Geschichte erwähnt.
  • In 1. Mose 17 wird das Wort “Bund” 13 Mal wiederholt, sechs Mal vor und sechs Mal nach der Phrase “Zeichen des Bundes” in Vers 11, wo das Wort “Bund” zum siebten Mal vorkommt.
  • In 1. Mose 39 kommt der Name “Josef” elf Mal vor, davon zum zweiten und zum vorletzten Mal in der Aussage “und der HERR war mit Josef” (39,2.21).
  • In 2. Mose kommt der Begriff “gedenken” genau sieben Mal vor, drei Mal vor und drei Mal nach dem vierten Gebot (“Gedenke des Sabbattages”) in 2. Mose 20.
  • Die Aussage “Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat” kommt genau sieben Mal im Pentateuch (fünf Bücher Mose) vor.
  • In Jesaja 58 kommen die Wörter “fasten” und “Tag” (im hebräischen Text) sieben Mal vor und da, wo das Wort “Tag” zum siebten Mal erwähnt wird, geht es um den Sabbat (58,13).
  • Im Buch Amos kommt der Name “Jakob” sechs Mal vor und auch hier gibt es ein klares Muster: das erste und sechste Mal kommt der Begriff in der Phrase “Haus Jakob” vor (3,13; 9,8), das zweite und fünfte Mal in der Phrase “Stolz Jakobs” (6,8; 8,7) und das dritte und vierte Mal in der Frage “Wie sollte Jakob bestehen? Es ist ja so klein.“ (7,2.5)

Ähnliche Muster gibt es im Neuen Testament:

  • In Matthäus 7,15-20, zum Beispiel, kommt das Wort „Frucht“ sieben Mal vor – das erste und das siebte Mal in der Aussage “an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen” (7,16. 20).
  • Die Phrase „diese Dinge habe ich euch gesagt“ kommt sieben Mal im Johannesevangelium vor.
  • Im Buch Offenbarung gibt es genau sieben Seligpreisungen, die so beginnen: “Selig ist/sind”

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Man könnte buchstäblich tausende von Beispielen anführen.

Das alles legt nahe, dass die biblischen Schreiber ihre Texte sehr bewusst geschrieben haben. Scheinbar wollten sie Texte erschaffen, deren Form genauso wichtig wie ihr Inhalt ist, so dass sie nicht nur interessant zu lesen, sondern auch schön sind. Je genauer man sich mit den biblischen Texten beschäftigt, desto mehr erkennt man, wie unglaublich schön sie tatsächlich sind. Sowohl die Bibel als Ganzes als auch die einzelnen Bücher und Abschnitte sind literarische Meisterwerke, in denen jedes Wort genau am richtigen Platz und jedes Detail von Bedeutung ist.

Dabei ist die Form des Textes kein Selbstzweck, sondern unterstreicht immer den Inhalt und die Botschaft. Deshalb ist es absolut sinnvoll auf die Form von biblischen Texten zu achten. Natürlich ist die volle Schönheit eines Textes nur in der Originalsprache sichtbar, da die Form (zumindest teilweise) beim Übersetzungsprozess verloren geht. Trotzdem kann man viel von der literarischen Schönheit auch in Übersetzungen wahrnehmen, wenn man die Bibel aufmerksam liest und auf Dinge wie Wiederholungen achtet.

Außerdem ist es hilfreich Fragen zu stellen. Stell am besten offene Fragen wie „wer?“, „was?“, „wo?“, „wann?“, „warum?“ und „wie?“. Wo war das Land Kusch? Was bedeutet der Name Nehemia? Wie weit ist Kapernaum von Jerusalem entfernt? Wann hat Salomo gelebt? Antworten auf diese Fragen findest du zum Beispiel in einem Bibellexikon. Natürlich kannst du auch einfach googeln oder eine Bibelsoftware verwenden, die ein oder mehrere Bibellexika enthält.

Wenn die biblischen Texte tatsächlich sehr bewusst geschrieben wurden und jedes Detail wichtig ist, solltest du außerdem noch eine weitere wichtige Frage beim Bibelstudium stellen:

Warum steht es so da, wie es dasteht?

Mit anderen Worten: Warum hat der Autor es genau so gesagt und nicht anders? Warum wird dieses Detail erwähnt? Warum verwendet der Autor dieses Wort oder diesen Ausdruck? Warum wird uns diese Information genau an dieser Stelle im Text gegeben? Stell diese Fragen immer wieder, während du den Text studierst, selbst wenn die Antwort nicht sofort offensichtlich ist. Je mehr du einen Text studierst und verstehst, wie er funktioniert, desto besser wirst du diese Fragen beantworten können.

Übungen

  1. Lies 1. Mose 11,10-26 und markiere alle Wörter und Zahlen, die mehrmals vorkommen. Fallen dir irgendwelche Muster auf? Welche Hinweise gibt es, dass dieser Text sehr bewusst geschrieben wurde?
  2. Lies Matthäus 15,29-39 und markiere alle Wörter, die mehrmals vorkommen. Zähle dann, wie oft die verschiedenen Wörter wiederholt werden. Fallen dir irgendwelche Muster auf? Welche drei Zahlen kommen am Häufigsten vor? Wo spielen diese Zahlen sonst noch eine Rolle? (Beachte z.B., wie viele Gruppen von Menschen in Vers 30 oder Vers 38 erwähnt werden oder wie viele Handlungen Jesus in Vers 36 durchführt, usw., usw.)
  3. Lies die Geschichte von Zachäus in Lukas 19,1-10 mehrmals aufmerksam durch und stell dir dabei immer wieder die Frage: Warum steht es so da, wie es dasteht? Welche scheinbar unnötigen Details werden erwähnt? Warum? Was fällt dir sonst noch auf?